Abwägungsrationalität und subjektive Beliebigkeit
Meine Kollegin Ute Sacksofsky hat die von mir geäußerte Kritik an ihrem Beitrag zur verfassungsrechtlichen Bewertung der Impfpflicht aufgegriffen. Sie ist meiner Erwiderung teils mit Klarstellungen, teils mit vertieften Argumenten entgegengetreten. Dies weiß ich sehr zu schätzen. Weil ich ihre Einwände ernst nehme, sie aber für nicht überzeugend halte, möchte ich dazu ebenfalls noch einmal Stellung nehmen, zumal es hier um grundrechtsdogmatisch wichtige Fragen geht, die weit über die – bald ohnehin verbummelte – Impfpflicht hinausweisen.
Grundrechte: Minderheitenschutz oder Schutz Einzelner?
Dass Grundrechte spezifisch Minderheiten schützen, ist ein in der Verfassungstheorie traditionsreicher und verbreiteter Ansatz, den man selbstverständlich für richtig halten kann. Mir erscheint er aber zu ungenau. Schon empirisch ist die von Sacksofsky behauptete Kongruenz von gesellschaftlicher „Mehrheit“ und Gesetzesinhalten unterkomplex, weil (legitimerweise!) gut organisierte Minderheiten politische Ziele in der Regel wirksamer durchsetzen können als diffuse Mehrheiten (eine politologische Binsenweisheit) und weil Lobbyismus mitunter mächtiger ist, als es die Stimmen von Wählerinnen und Wählern sind.
Entscheidender ist aber ein normatives Begründungsdefizit: Jedenfalls Grundrechte des Grundgesetzes, die in einem Funktionszusammenhang mit der Menschenwürde als Basis eines konkreten verfassungsrechtlichen Freiheitsmodells stehen (Art. 1 Abs. 1, Abs. 3 GG), schützen jeden einzelnen Menschen als atomistische Minderheit schlechthin. Hierfür kommt es nicht darauf an, ob jemand einer kollektiven „Minderheit“ angehört oder einer vermeintlichen „Mehrheit“. Schon solchen (reichlich grobschlächtigen) substanzhaften Schablonen wohnt eine Tendenz zur Essentialisierung inne, der auch Sacksofsky sicherlich entgegentreten würde. Minderheit ist man immer nur situativ, grundrechtsdogmatisch wenn man einen konkreten Eingriff nicht dulden will, der nicht von der „Mehrheitsgesellschaft“, sondern von konkreten Institutionen ausgeht, die einen eigenen politischen Willen bilden (nicht einen „Mehrheitswillen“ abbilden). Für Grundrechte ist Mehrheit und Minderheit keine taugliche Zurechnungskategorie: Etwa eine Versammlung, die für eine – demoskopisch breit mehrheitsfähige – Impfpflicht demonstrieren will, genießt nach Art. 8 Abs. 1 GG keinen geringeren Schutz wie eine radikal minoritäre „Querdenker“-Demo.
Materieller Minderheitenschutz
Eine materielle Minderheitenposition kann allenfalls dazu führen, dass einzelne Individuen besonderen Gefährdungen ausgesetzt sind,1) die z. B. auf einer strukturell gruppenbezogenen Diskriminierung beruhen können. Das kann dann gewiss erhöhten Schutzbedarf auslösen, setzt aber seinerseits voraus, dass sich eine vulnerable Minderheitenlage (z. B. empirisch-statistisch) objektivieren lässt. Dass sich jemand als Teil einer unterdrückten Minderheit „fühlt“ (dies wird auch bei „Querdenkern“, Holocaust-Leugnern oder larmoyanten Daswirdmandochnochsagendürfen-Professoren so sein), vermittelt weder relevanten Schutzbedarf noch eine Rechtfertigung, zum Schutz des Gefühls der Verfolgungs-Selbst-Sensiblen Freiheitsrechte Dritter zu beschränken. So oder so resultiert rechtlich relevanter Schutzbedarf erst aus einer zu objektivierenden Gefährdungslage. Bei der Gütergewichtung in der Verhältnismäßigkeit sind dann die spezifische Schutzfunktion des jeweiligen Grundrechts und die Wertigkeit der jeweils auf dem Spiel stehenden Güter einzubeziehen, die aber verfassungsinhärent angelegt ist und sich nicht einseitig subjektiv bestimmen lässt.
Religionsfreiheit als subjektivistisches Modellgrundrecht?
Die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1-2 GG) ist ein besonderes Grundrecht mit einer besonderen Prüfungsstruktur und eignet sich kaum für eine Verallgemeinerung, die Sacksofsky vorschlägt. Weil sich die Religionsfreiheit auf transzendente Wahrheitsansprüche bezieht, die irdischer Bewertung unzugänglich sind, kann auch die Interessengewichtung in der Güterabwägung von vornherein nicht von der Richtigkeit einer – stets subjektiven – Position abhängen. Unabhängig davon ließe sich damit keine Prärogative des Subjektiven in der Güterabwägung begründen. Den Plausibilitätstest, ob eine Glaubensvorstellung wirklich Bestandteil einer transzendenten Sinngebung oder nur vorgeschoben ist, bezieht die Rechtsprechung auf die Eröffnung des Schutzbereichs. In der Eingriffsrechtfertigung bei der Abwägung ist dann dem hohen Stellenwert der Religionsfreiheit als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht Rechnung zu tragen. Das subjektive Empfinden, was jemandem hierbei besonders wichtig ist, kann hingegen schon mangels Rationalisierbarkeit nicht das letztentscheidende Gewichtungskriterium sein, zumal wenn – wie meistens – Rechtsgüter anderer Individuen auf dem Spiel stehen. Wenn beispielsweise jemand aus religiösen Motiven andere Menschen verletzen oder unterdrücken will, ist es grundrechtsdogmatisch unerheblich, welcher subjektive Stellenwert der Verletzung aus tiefster Überzeugung beigemessen wird.
Minderheitenschutz durch Wahrheitsschutz
Typischerweise sind es gerade vulnerable Minderheiten, die auf Objektivität angewiesen sind, weil es nur diese ermöglicht, sich gegen irrationale Übergriffe zur Wehr zu setzen, erst recht dann, wenn falsche Tatsachenannahmen mehrheitsfähig sind. Die Rechtsprechung zu Kommunikationsgrundrechten operiert daher auch durchweg mit einem Begriff verfahrensrechtlich operationalisierbarer Wahrheit, um wirksamen Schutz gegen tatsächlich falsche Behauptungen gewährleisten zu können. Dass verquaster Unfug hierbei mitunter sogar schutzlos gestellt wird, selbst wenn Betroffene subjektiv von der Richtigkeit felsenfest überzeugt sein mögen, zeigt der Umgang mit Holocaust-Leugnern, die in der Regel nicht bewusst lügen, sondern in ihrer kruden Parallelwelt meinen, Einsicht in eine Wahrheit zu haben, die der „Mainstream“ mit seiner instrumentellen Objektivität unterdrücke. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Recht entsprechenden Meinungsäußerungen den Schutz der Meinungsfreiheit entzogen, weil es „sich um eine Tatsachenbehauptung“ handele, „die nach ungezählten Augenzeugenberichten und Dokumenten, den Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft erwiesen unwahr ist“.2)
Relationalität benötigt gemeinsame Wirklichkeit
Ein relationales Grundrechtsverständnis setzt voraus, dass Güterkonflikte auf der Grundlage einer „kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit“ (so eine einprägsame Formulierung der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguen-Kim) verhandelt werden. Auf der Grundlage einer geteilten Wirklichkeit mag man dann sehr unterschiedliche Werturteile treffen, die aber von vornherein nur sinnvoll sind, wenn man sie auf eine geteilte Tatsachenbasis beziehen kann. Niemand kann zwar gezwungen werden, subjektiv an etwas zu glauben, gleich ob dies Tatsachen oder Werturteile sind. Aber irrationale Tatsachenbehauptungen können für die Ordnung eines verträglichen Miteinanders als schlicht irrelevant behandelt werden. Das gilt zumal dann, wenn es um Grundrechtskonflikte geht, die – wie meistens und auch hier – Rechte Dritter tangieren.
Disproportionalität in den Folgen
Sacksofskys Modell einer subjektivierten Angemessenheitsprüfung führt gerade dadurch zu einer groben Disproportionalität der normativen Gewichtung, dass die Frage der tatsächlichen Eingriffswirkungen zu einem subjektiven Perspektivenproblem deformiert wird. Ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) steht allen Menschen gleichermaßen zu und die körperliche Integrität von Angehörigen des vermeintlichen „Mainstreams“ ist normativ nicht weniger wert als die körperempfindsamer Impfverweigerer. Letztere setzen aber die Körper anderer signifikant erhöhten Belastungen und Risiken aus. Aufwändige Operationen werden verschoben, was für Betroffene mit schwerem Leid – von Krebs bis Endometriose – erhebliche Beeinträchtigungen in der körperlichen Lebensführung bedeutet, deren Wert Sacksofsky so betont. Und wenn es zur Triage kommt, kann die Widerstandsromantik der Impfverweigerer andere Menschen Leben kosten. Solidarität nach dem Motto: „Du darfst für meinen Glauben sterben“? Hier werden nicht soziale Freiheitsrisiken rational ausgehandelt, sondern unzählige Menschen den subjektiven Phantasmen bizarrer Esoterik geopfert. Dies mag – das will ich Sacksofsky sofort zugestehen – nicht selbst postmoderner Radikalrelativismus sein, es ist aber zumindest ein Radikalliberalismus, der ohne Rücksicht auf Verluste die Gesellschaft postmoderner Beliebigkeit gefühlter Wahrheiten ausliefert. Ja, ich hab’s gelesen: nicht „völlig“!
Die Kosten dieser rücksichtslosen Subjektivierung sind dabei zugleich asymmetrisch verteilt. Es trifft besonders die gesundheitlich Vorbelasteten, die sozial Benachteiligten, die überlasteten Pflegekräfte oder Menschen, die einer ständigen Virenexposition nicht ausweichen können, weil sie z. B. an der Supermarktkasse arbeiten oder im der Grundschulklasse unterrichten. Der damit zugleich verbundene Gender-Bias dürfte Sacksofsky kaum entgangen sein.
Tatsachenbezogene Eingriffsrationalität und Richtigkeit
Werden Grundrechtseingriffe mit tatsachenbezogenen Annahmen gerechtfertigt, kann die Frage der tatsächlichen Richtigkeit gerade bei der Bestimmung der realen Eingriffsfolgen nicht subjektivistisch neutralisiert werden. Die „Frage, wie schwer eine Grundrechtsbeeinträchtigung wiegt“, wird bei einer notwendigen Objektivierung – entgegen Sacksofsky – eben nicht „allein aus der Perspektive der Mehrheit beurteilt“. Sie hängt – gewiss: nicht ausschließlich, aber doch zunächst einmal ganz entscheidend – von der probabilistischen Beurteilung ab, welche biopharmakologisch und immunologisch zu ermittelnden Wirkungen und Risiken von einer Impfung mit einem konkreten Impfstoff tatsächlich ausgehen. Diese Frage ist einer Entscheidung nach „Mehrheit“ von vornherein entzogen, weil hier die Objektivierbarkeit eingriffsrechtfertigender Sachgründe und damit die wissenschaftliche Richtigkeit von erfahrungsbasierten und evidenzgesättigten Wahrscheinlichkeitsurteilen gefordert ist. Dass es in den Beiträgen von Sacksofsky daher – wie sie behauptet – nicht auch um wissenschaftliche Wahrheitsansprüche ginge, ist insoweit unzutreffend.
Das Selbstverständnis Betroffener ist zwar nicht irrelevant, kann aber die Schwere des Grundrechtseingriffs nicht vorrangig präformieren. Es macht eben auch normativ einen Unterschied, ob jemand seine Verweigerung auf rationale Gründe stützt, die man mit gleichermaßen rationalen Gemeinwohlbelangen sinnvoll abwägen kann (z. B. das Risiko von bekannten schweren Nebenwirkungen oder noch unbekannten Spätfolgen), oder ob völlig unsinnige Gründe angeführt werden (z. B. die „Regierung“ wolle im Auftrag von Bill Gates Chips implantieren; Impfung mache unfruchtbar; mRNA-Impfstoffe würden das Erbgut verändern; Corona lasse sich auch mit Globuli heilen). Für die Gewichtung in der Güterabwägung ist es entscheidend, ob ein Impfstoff mit einer – durch verlässliche empirische Daten gestützten – relevanten Wahrscheinlichkeit tatsächlich schädlich ist oder ob jemand nur grundlos glaubt, dass er dies ist. Sacksofsky stellt beides jedoch auf eine Ebene. Aus der „Perspektive“ der Verweigerer sei „die Impfung eben nicht eine lästige Bagatelle, sondern erscheint vergleichbar der Zuführung von Schadstoffen oder gar einem Gift“; demgegenüber „mag“ vielen eine „solche Sichtweise […] als absurd erscheinen“. Genau darin liegt die Öffnung hin zu einer radikalrelativistischen Beliebigkeit: Ein Impfstoff wird nicht qua Subjektivierung zum Gift, und diese Position mag nicht anderen lediglich absurd erscheinen, sie ist es auch. Und das hat Abwägungsrelevanz.
Geht die Diskussion um eine Subjektivierung des Grundrechtsschutzes nicht an den Verfassungsproblemen zur Impfpflicht vorbei? Wenn die Funktion des Grundrechtsschutzes darin besteht, dem Grundrechtsträger einen Freiheitsraum zu sichern, so muss dessen Selbstverständnis doch zwangsläufig eine zentrale Rolle spielen – und zwar auf allen Ebenen des Grundrechtsschutzes. Warum sollte sich die Subjektivierung des Grundrechtsschutzes, die auf Schutzbereichsebene für sämtliche Grundrechte anerkannt ist, nicht bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung fortsetzen – in der Privatnützigkeit des Eigentums, für die eine wie immer zu definierende objektive Vernünftigkeit einer Nutzung des Eigentumsobjekts irrelevant ist, in der privatautonomen Bestimmung eines eigenen Berufsbilds, im Selbstverständnis des Gläubigen? Ist die verfassungsrechtliche Frage nicht woanders zu sehen? Die konkreten Interessen eines Impfgegners sind auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einzustellen und oberhalb einer Plausibilitätsschwelle selbstredend sämtlich abwägungsrelevant. Davon unabhängig ließe sich jedoch fragen, ob die Begründung einer Pflicht zur Impfung das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nicht in seinem Wesensgehalt verletzt. Wer der Selbstbestimmung über den eigenen Körper eine zentrale Bedeutung für die Reichweite des Grundrechtsschutzes entnimmt – und er findet dafür immerhin gute Argumente in der Rechtsprechung des BVerfG zum selbstbestimmten Sterben – kommt hier an Art. 19 Abs. 2 GG nicht vorbei. Im Übrigen lässt sich zur Impflicht natürlich nach wie vor und unter stets neuen Gesichtspunkten fragen, (1) wie wir – inzwischen – ihr legitimes Ziel definieren, (2) wenn das Ziel in der allgemeinen Erhöhung der Impfquote liegen soll, ob eine Impflicht dafür überhaupt geeignet ist, und immer noch, (3) ob es kein milderes Mittel dazu gibt.