Effiziente Praktik oder Gift für den freiheitlichen Rechtsstaat?
Gewaltsames Handeln der Polizei kann nach den Polizeigesetzen der Länder, wenn es verhältnismäßig ist, als „unmittelbarer Zwang“ rechtmäßig sein und vielfach ist es auch erforderlich, um polizeiliche Aufgaben zu erfüllen. Ob dies auch für polizeiliche Schmerzgriffe gegen rein passiv Protestierende vor oder während der Räumung einer Straßenblockade gilt, erscheint jedoch zweifelhaft: Handelt es sich bei extremer Schmerzzufügung gegenüber den Betroffenen überhaupt um unmittelbaren Zwang im Sinne des Polizeirechts? Und kann diese Praxis tatsächlich noch als verhältnismäßig angesehen werden? Wenn nicht, was sind die strafrechtlichen Konsequenzen für die beteiligten Polizisten und ihre Vorgesetzen? Können sich die Demonstrierenden gegen polizeiliche Schmerzgriffe rechtmäßig wehren und warum greifen beispielsweise die Polizeikräfte in Berlin und Hamburg bei friedlichen Versammlungen systematisch zu Schmerzgriffen, während andere Bundesländer diese als rechtswidrig einstufen? Diesen Fragen widmet sich das Symposium „Friedfertige im Schmerzgriff der Polizei“, dessen Beiträge im Laufe dieser Woche sämtlich erscheinen.
In den Fokus der Öffentlichkeit ist die Polizeipraktik geraten, weil online einsehbare Videos von Klimaschutzaktivisten sehr genau zeigen, wie die Polizei einiger Bundesländer systematisch Schmerzgriffe bei der Räumung von Sitzblockaden gegenüber sich absolut passiv verhaltenden Demonstrierenden einsetzt (s. hierzu bereits Espín Grau/Singelnstein). Doch auch bei Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen oder Uni-Besetzungen pro Palästina kamen polizeiliche Schmerzgriffe zur Anwendung.
Was sind Schmerzgriffe?
Mit Schmerzgriffen (auch Nervendrucktechniken genannt) sind im Folgenden die polizeilichen Techniken gemeint, bei denen durch starken Druck auf besonders schmerzempfindliche Stellen am Körper (z.B. hinter den Ohren oder unter der Nase) extreme Schmerzen hervorgerufen werden. Durch einen solchen Griff sollen der Person in der Sitzblockade unerträgliche Schmerzen zugefügt werden, um diese einzuschüchtern. Es geht bei dieser Praxis nicht darum, reflexartige Bewegungen auszulösen, die der Polizei das Wegtragen ermöglichen. Schmerzgriffe im Sinne dieses Symposions sind insofern von Hebetechniken und von für das Wegtragen notwendigen (mobilisierenden) Tragegriffen der Polizei zu unterscheiden. Die Demonstrierenden sollen stattdessen aus Angst vor weiterer Schmerzzufügung die vom Polizeibeamten erwünschte Handlung selber vornehmen (aufstehen und weggehen) bzw. beim Wegtragen durch die Polizei zusätzlich so eingeschüchtert werden, dass sie später nicht weiter an Protesten teilnehmen. Manche Polizisten drohen den Protestierenden offen „unvorstellbare Schmerzen“ mit tagelanger Nachwirkung an, wenn sie nicht aufstehen und die Blockade beenden. Nicht zufällig müssen Aktivisten, die Opfer von polizeilichen Schmerzgriffen geworden sind, häufig wegen Traumatisierungen psychisch behandelt werden.
Selektive Empathie
Reaktionen in sozialen Medien erwecken den Eindruck, dass die Bewertung der Praktik auch danach ausfällt, ob Sympathie oder Antipathie für das Anliegen der Demonstranten empfunden wird. Danach richtet sich dann, ob der Einsatz von Schmerzgriffen begrüßt, akzeptiert oder (empört) abgelehnt wird. Bemerkenswert ist schon die darin sichtbar werdende selektive Empathie für Opfer von Polizeigewalt. Aus rechtlicher Sicht ist der Anlass der Demonstration für die Bewertung polizeilicher Schmerzgriffe jedoch erst einmal irrelevant. Entscheidend ist das Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigung sowie die Verhältnismäßigkeit, das heißt der legitime Zweck der Einzelmaßnahme und ihre Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Dem anderen, der friedlich sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ausübt, auch wenn ich sein Anliegen für gänzlich falsch halte, ein minima juridica zuzubilligen, sollte für Demokraten zum Selbstbild gehören: Niemand darf unverhältnismäßiger staatlicher Gewalt ausgesetzt sein. Schon gar nicht im Kontext von grundrechtlich geschützten friedlichen Protesten.
Erosion des Rechtsstaats?
Dass aber die Anwendung von Schmerzgriffen unverhältnismäßig ist, wird insbesondere von Verantwortlichen der Polizeibehörden bestritten, sie verteidigen die Einsatzpraxis als rechtskonform (s. etwa hier und hier). In einem so sensiblen Bereich wie dem Einsatz staatlicher Gewalt gegen demonstrierende Bürger sollte aber Klarheit herrschen über die Grenzen des Zulässigen. Auch die normativen Kosten für die Rechtsgemeinschaft sollten genau betrachtet werden: Erodiert hier ein Fundamentalprinzip des freiheitlichen Rechtsstaats? Die im Symposium gesammelten Beiträge beleuchten deshalb das Thema aus mehreren Blickwinkeln.
Verwaltungs- und Verfassungsrecht und Menschenrechte
Ausgangspunkt der rechtlichen Bewertung von polizeilichen Schmerzgriffen ist die Frage nach einer Rechtsgrundlage. Ihr geht Joachim Wieland nach. Zugleich klärt er den fürs Verwaltungs- und Verfassungsrecht bedeutsamen Punkt der Verhältnismäßigkeit. Die Polizei kommuniziert die Schmerzgriffe als „mildestes Mittel“. Diese Einstufung unterliegt in mehrerlei Hinsicht Bedenken. Unser Autor verwirft denn auch die Bewertung der Polizeibehörden. Im Einzelfall sei vielmehr sogar das Folterverbot verletzt.
In dieselbe Richtung weisen Sarah Ahmad und Jochen von Bernstorff. Polizeilichen Schmerzgriffe, verstoßen gegen das menschenrechtliche Verbot erniedrigender Behandlung und damit auch gegen die Menschenwürde der Betroffenen, wenn Beamte sie gegen passiv Protestierende richten. Ahmad und von Bernstorff zeigen außerdem, dass der Polizei in den hier besprochenen Fällen aus gutem Grund schon die landespolizeirechtliche Rechtsgrundlage für die Anwendung der Schmerzgriffe fehlt. Sie betonen weiterhin, dass Schmerzgriffe sich verheerend auf die Wahrnehmung des Grund- und Menschenrechts der Versammlungsfreiheit auswirken, d.h. sogenannte chilling effects nach sich ziehen. Mit Blick auf Kontroll- und Rechtschutzmöglichkeiten wird darauf hingewiesen, dass internationale Menschenrechtsgremien Deutschland immer wieder dafür kritisieren, dass es keine hinreichend unabhängigen Beschwerdestellen bei Fällen von Polizeigewalt gibt.
Strafrecht und Amtshaftung
Für rechtswidrige Schmerzgriffe stellt sich – wie allgemein für rechtswidrige Polzeigewalt – die Frage einer Notwehrbefugnis der Betroffenen. Bernd Heinrich entwirrt das rechtliche Geflecht aus Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, dem spezifischen Rechtswidrigkeitsbegriff bei Polizeihandeln und möglichen Einschränkungen der Notwehrbefugnis der Betroffenen.
Welche Folgen ein unrechtmäßiger polizeilicher Schmerzgriff in strafrechtlicher und zivilrechtlicher Hinsicht hat, erläutert Jörg Scheinfeld ausgehend von einem konkreten Berliner Fall, in dem ein Ermittlungsverfahren andauert. Die den Schmerzgriff anwendenden Polizeibeamten sowohl wie ihre am Einsatzort nicht eingreifenden Kollegen können sich strafbar machen wegen einer (gefährlichen) Körperverletzung im Amt. Ihre Vorgesetzten begehen im Einzelfall eine Verleitung zu Straftaten im Amt. Zivilrechtlich ergibt sich für die Betroffenen ein Amtshaftungsanspruch gegenüber dem Bundesland (bei Landespolizisten) oder der Bundesrepublik (bei Bundespolizisten).
Kriminologie und Polizeiwissenschaft
„Aber wer bewacht die Wächter?“, fragen Benjamin Derin und Tobias Singelnstein. Die Autoren legen dar, dass das Strafverfahren allein keinen hinreichend wirksamen Mechanismus bietet, um Polzeigewalt aufzuklären und ihr angemessen zu begegnen. Dazu zeigen sie Defizite und Grenzen der justiziellen Aufarbeitung auf. Das Strafverfahren zielt insbesondere nicht auf das Erkennen struktureller Missstände. Zudem gibt es rechtmäßige Polizeigewalt, die schwer erträglich ist und die durch umsichtiges Agieren vermeidbar wäre. Derin und Singelnstein plädieren dafür, im Strafverfahren eine gänzlich unabhängige Behörde ermitteln zu lassen und auch außerhalb des Strafverfahrens eine externe Stelle einzusetzen, die neben der Prävention für Kommunikation und Mediation zuständig ist.
Schmerzgriffe sind ein effizientes Mittel der Polizei, um ein Versammlungsgeschehen zu kontrollieren. Doch ist nicht jeder Einsatz eines effektiven Rechtsmittels auch rechtmäßig. Das betont Andreas Ruch, und er beleuchtet in seinem Beitrag, welche gesellschaftsstrategischen Überlegungen die Polizei bei der Entscheidung darüber leitet, ob bei Versammlungen Schmerzgriffe eingesetzt werden oder nicht. Vor allem bedeutsam sei aus Sicht der Polizei, ob das Vorgehen noch als fair eingestuft werde. Ruch legt für die Fälle friedlicher Proteste dar, dass der Einsatz von Schmerzgriffen indes weder mit dem Selbstbild der Polizei noch mit dem Prinzip rechtsstaatlichen Handelns vereinbar ist.
Soziologische Perspektive
Neben der Effizienz haben Schmerzgriffe für die Polizei einen weiteren bedeutsamen Vorteil: Sie vermeiden sonst nötige brachiale Formen der Gewalt und lassen den Polizeieinsatz damit „sauber“ erscheinen. Eric von Dömming erläutert, dass sich die Methode einfügt in die Tendenz, staatliche „Gewalt ästhetisch zu glätten“. Bei der „modernen Empfindlichkeit“ sei dies unverzichtbar, soll eine Praxis von der Gesellschaft akzeptiert oder toleriert werden. Die ästhetische Zivilisierung der Gewalt ist aber vordergründig und ambivalent: Sie zielt nicht auf Erforderlichkeit und Angemessenheit, sondern darauf, dass das Vorgehen lediglich nicht so gewaltsam wirkt.