05 August 2024

Menschlich verständlich, aber trotzdem falsch?

Zur Rechtsnatur des so genannten Gefangenenaustauschs mit Russland

Als West und Ost während des Kalten Krieges inhaftierte Spione und politische Gefangene austauschten, erfand die bundesrepublikanische Bürokratie für diesen Vorgang den Begriff „besondere Bemühungen“.1) Trotz seines sedierend-nüchternen Klanges lässt er das Außergewöhnliche des Geschehens, das er bezeichnet, erahnen: Es fällt nicht nur aus dem Rahmen der politischen Alltagsbewältigung; als „Bemühung“ verweist es auf eine dienstliche Tätigkeit, die sich exakten rechtlichen Kategorien entzieht, also kein Verwaltungsakt oder eine andere Form des Gesetzesvollzugs darstellt. Anders gewendet: Hinter dem Besonderen steht kein Allgemeines, der Gefangenenaustausch entzieht sich verwaltungs- und strafrechtlichen Kategorien.

Auch der Austausch eines in Deutschland rechtskräftig wegen Mordes verurteilten Angehörigen des russischen Geheimdienstes sowie seiner in den USA und anderen westlichen Staaten in Haft sitzenden „Kollegen“ (Putin) gegen von Russland und Belarus als Geiseln gehaltene deutsche und amerikanische Bürger hat nicht nur Beifall gefunden. Franz Mayer hat ihn mit politisch-prinzipiellen Erwägungen kritisiert und zudem eine Präzisierung des geltenden Rechts angemahnt. Letzteres zielt auf § 456a StPO, auf den die Freilassung des verurteilten „Tiergartenmörders“ gestützt wurde. Diese Vorschrift ermöglicht es, von der (weiteren) Vollstreckung einer Freiheitsstrafe abzusehen, wenn der Verurteilte aus dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes abgeschoben wird. Der Generalbundesanwalt, die Angehörigen des Ermordeten und deutsche Kommentator:innen bezweifeln jedoch, dass es im Ermessen der Behörden stand, von der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe schon nach wenigen Jahren abzusehen, zumal das Landgericht Berlin die besondere Schwere der Schuld festgestellt hatte (was im Regelfall sogar die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach 15 Jahren ausschließt).

War die „Aktion“, mit der Band Kettcar2) gesprochen, „also menschlich verständlich, aber trotzdem falsch?“ Ich meine: nein. Als eine – rechtlich nur grob vorstrukturierte – exekutive Maßnahme an der Schnittstelle von Innen- und Außenpolitik geht sie nicht in einer Subsumtion unter strafprozessuale Normen auf. Sie bedarf vor allem einer tragfähigen politischen Begründung und einer eindeutigen Markierung der politischen Verantwortlichkeiten. Beides war hier gewährleistet. Rechtspolitischer Handlungsbedarf besteht nicht. Eine Präzisierung des § 456a StPO löst nicht die in jedem Einzelfall entstehenden Probleme. Im Gegenteil: Sie könnte das Erpressungspotenzial noch vergrößern.

Strafprozessrecht

Die Kritik an der auf § 456a StPO gestützten Freilassung des vom FSB gedungenen Mörders ist insoweit zu erwarten gewesen, als die Vorschrift nicht für solche Fälle gedacht ist; ihre Anwendung auf einen solch außergewöhnlichen Fall muss den Ermessensspielraum daher bis an die Grenzen ausreizen. Insoweit ist es nachvollziehbar, dass der Generalbundesanwalt (GBA), der zuvorderst der (gleichen) Rechtsdurchsetzung verpflichtet ist, seine diesbezüglichen Bedenken dokumentiert hat. Dabei lässt sich die Anwendung der Norm auf diesen Fall durchaus mit ihrem Zweck in Einklang bringen. Sie soll nämlich den Strafvollzug entlasten, wenn weder Resozialisierungsbemühungen noch Sicherheitsinteressen die weitere Vollstreckung der Strafe gebieten. Ein solcher Fall liegt insbesondere vor, wenn der Gefangene für die Allgemeinheit keine ernste Gefahr darstellt, weil er demnächst ausgeliefert oder ausgewiesen wird.3) Dieses Ziel wird mit der Überstellung des FSB-„Kollegen“ in sein Heimatland zweifelsohne erfüllt, da es äußerst unwahrscheinlich ist, dass gerade er für weitere Operationen in und gegen Deutschland eingesetzt werden wird (was auch Teil der Vereinbarung zwischen den beteiligten Staaten sein dürfte).

Eine Aussetzung der Vollstreckung nach § 456a StPO erfordert jedoch eine Abwägungsentscheidung im Einzelfall, bei der weitere Kriterien als die genannten Sicherheitsüberlegungen berücksichtigt werden müssen. Zu diesen Abwägungsfaktoren gehören namentlich die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld und die bisherige Vollstreckungsdauer.4) Diese Kriterien führen dazu, dass nach den einschlägigen Richtlinien der Bundesländer grundsätzlich die Hälfte der Strafe zu vollstrecken ist.5) § 456a StPO kann also auf Personen angewandt werden, die eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen; eine Entlassung deutlich vor Ende der Mindestverbüßungsdauer bedarf aber zumindest einer besonders sorgfältigen Begründung.

Außenpolitik

Zur Begründung lassen sich in diesem Fall nicht nur die Schutzpflichten gegenüber dem von Belarus inhaftierten deutschen Staatsangehörigen aufführen, sondern auch zwischenstaatliche Solidaritätserwägungen: Von dem „Deal“ profitieren auch und vor allem Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Amerika, die nicht nur unser engster Verbündeter, sondern vor allem Sicherheitsgarant Deutschlands sind. Bezieht man die außenpolitische Dimension mit ein, zeigt sich, wie fernliegend der historische Vergleich des Vorgehens der USA und Deutschlands mit der Weigerung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ist, RAF-Gefangene im Austausch gegen die Geisel Hanns Martin Schleyer freizulassen. Schmidts Entscheidung war nicht Gegenstand globaler Interessenkonflikte und der (nicht öffentlich ausgehandelten) Versuche, diese zu mitigieren, sondern betraf allein die Bonner Republik, für die allein Schmidt Verantwortung trug. Die Befürchtung, dass Deutschland weiteren russischen Erpressungsversuchen ausgesetzt werde, ist zwar berechtigt. Bei Lichte betrachtet, begann die strategische Nötigung Deutschlands durch Russland nicht mit der Geiselnahme deutscher und amerikanischer Staatsbürger, sondern spätestens mit der nur scheinbar freundlichen Übernahme des deutschen Gasmarktes durch Gazprom. Ob Deutschland und der Westen von Russland erpressbar sind, erweist sich daher nicht an einem Austausch von Gefangenen und Geiseln, sondern an dem langfristigen Vermögen der deutschen und westlichen Politik, der Aggression Russlands standzuhalten. Das erfordert verteidigungs- und fiskalpolitische Tatkraft, keinen (billig zu habenden) Heroismus zu Lasten Dritter.

So betrachtet, besteht kein Zweifel daran, dass Bundesjustizminister Buschmann über gewichtige Gründe verfügte, mit deren Hilfe die Bedenken des GBA entkräftet werden konnten. Dass Minister und GBA zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangten, ist auch kein Skandal, sondern spiegelt die Komplexität der Entscheidung, in die Erwägungen unterschiedlicher Art einfließen. Vor allem aber zeigt der Vorgang einen Vorzug des demokratischen Rechtsstaats, der solche Unterschiede ermöglicht und in verfahrensmäßig strukturierter Form offenlegt und nicht – wie in Diktaturen – unterdrückt.

Kein rechtspolitischer Handlungsdarf

Anders als Franz Mayer sehe ich daher auch keinen rechtspolitischen Handlungsbedarf. Eine weitere Spezifizierung der Anwendungsvoraussetzungen des § 456a StPO – etwa ein Ausschluss bei lebenslanger Freiheitsstrafe – würde das politische Ermessen erheblich verengen. Gerade bei der Anwendung auf einen Gefangenenaustausch könnte eine solche rechtliche Feinlenkung der Ermessensentscheidung fatal sein, da sie das Erpressungspotenzial noch vergrößert. Für Staaten wie Russland wäre es ein Fest, wenn sich Minister über harte rechtliche Grenzen hinwegsetzen müssten, um ihren Schutzpflichten gegenüber eigenen Staatsangehörigen und außenpolitischen Solidaritätsverpflichtungen nachkommen zu können. Dem ist ein Recht, das der Exekutive den notwendigen Spielraum für die Entfaltung „besonderer Bemühungen“ belässt, eindeutig vorzuziehen.

Ein besonderer Dank für wertvolle Unterstützung bei Abfassung dieses Beitrags gebührt Frau Ass. iur. Alina Preiß, B.A.

References

References
1 Hollmann/Kuhrt (Hrsg.): „Besondere Bemühungen“ der Bundesregierung, Bd. 1: 1962 bis 1969, Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch, Dokumente zur Deutschlandpolitik, 2012.
2 Kettcar, „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“, Album: „Ich vs. Wir“, 2017, Label: Grand Hotel van Cleef.
3 BVerfG Beschl. v. 9.10.2003 – 2 BvR 1497/03; BayObLG StV 2022, 314; MüKoStPO/Nestler, 1. Aufl. 2019, StPO § 456a Rn. 2.
4 BeckOK StPO/Coen, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 456a Rn. 4 mwN.
5 KK-StPO/Appl, 9. Aufl. 2023, StPO § 456a Rn. 3.

SUGGESTED CITATION  Kubiciel, Michael: Menschlich verständlich, aber trotzdem falsch?: Zur Rechtsnatur des so genannten Gefangenenaustauschs mit Russland, VerfBlog, 2024/8/05, https://healthyhabit.life/menschlich-verstandlich-aber-trotzdem-falsch/, DOI: 10.59704/9b43b243b0b943e5.

2 Comments

  1. LE Tue 6 Aug 2024 at 11:22 - Reply

    P.S. Die Verurteilung erfolgte nicht durch das LG, sondern das KG.

  2. MFK Sat 10 Aug 2024 at 15:47 - Reply

    Warum war der GBA für diese Entscheidung zuständig?

    Der Gesetzgeber darf den Bund bei Staatsschutzdelikten und bei Straftaten nach dem Völkerstrafgesetz mit der Strafverfolgung beauftragen (Art. 96 Abs. 5 GG). Davon hat der Gesetzgeber mit §§ 142a Abs. 1, 120 Abs. 1 GVG Gebrauch gemacht. Die Bundesanwaltschaft hat aufgrund dieser Normen die Strafverfolgung des Krassikov übernommen. Deshalb die Anklage beim KG.

    Die Strafverfolgung ist mit rechtskräftigem Urteil abgeschlossen. Daran schließt sich die Strafvollstreckung an. Die Strafvollstreckung ist seit der Föderalismusreform Ländersache.

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