12 November 2024

Das Resilienzrisiko

Zur geplanten Einführung eines Ersatzwahlmechanismus für Verfassungsrichter*innen ohne rechtliche Absicherung des Zweidrittelquorums

Mit dem Bruch der Regierungskoalition und der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen hat die Debatte um die Resilienz des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) an Dringlichkeit gewonnen. Veränderte Mehrheitsverhältnisse in der nächsten Legislaturperiode könnten die zur rechtlichen Absicherung des Gerichts erforderlichen Verfassungsänderungen auf absehbare Zeit unmöglich machen. Juristische Berufsverbände und Interessengruppen drängen daher auf die rasche Verabschiedung eines Gesetzentwurfs zur Änderung des Grundgesetzes, den die Bundestagsfraktionen der Ampelparteien und der Union im September gemeinsam vorgelegt haben (BT-Drs. 20/12977).

In der Debatte wurde bisher jedoch ein wichtiger Punkt übersehen: Die geplante Einführung eines Ersatzwahlmechanismus würde bestimmten parlamentarischen Mehrheiten neue Wege eröffnen, um Legitimation und Unabhängigkeit des BVerfG anzugreifen. Auch wenn die Aussicht auf vorgezogene Neuwahlen ein schnelles Vorgehen des Verfassungsgesetzgebers erforderlich macht, bedarf der Entwurf daher wesentlicher Änderungen, ohne die er seinen eigenen Zwecken zuwiderlaufen würde.

Zwei Mechanismen

Neben der verfassungsrechtlichen Normierung bestimmter, bisher nur einfachgesetzlicher Vorschriften zu Status und Struktur des Gerichts, sieht der Gesetzentwurf insbesondere die Einführung einer Öffnungsklausel in das Grundgesetz vor, die es dem Gesetzgeber erlauben würde, vom Grundsatz der paritätischen Wahl der Verfassungsrichter*innen abzuweichen. Dem bisherigen Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG zufolge wählen Bundestag und Bundesrat jeweils die Hälfte der Richter*innen des BVerfG. Freiwerdende Stellen muss dasjenige Wahlorgan besetzen, das schon das ausscheidende Mitglied des Gerichts gekürt hat. Künftig soll im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) jedoch festgelegt werden dürfen, dass auch das jeweils andere Wahlorgan einspringen kann, wenn das eigentlich zuständige Gremium innerhalb einer bestimmten Frist kein*e Kandidat*in wählt. Ein zweiter, gleichzeitig eingebrachter Gesetzentwurf soll von der Öffnungsklausel Gebrauch machen und die entsprechenden Änderungen im BVerfGG vornehmen (BT-Drs. 20/12978).1) Die Einführung des Ersatzwahlmechanismus soll sicherstellen, dass Blockaden der Richter*innenwahl gelöst und vakante Stellen am BVerfG in angemessener Zeit nachbesetzt werden können (BT-Drs. 20/12977, S. 8).

Von Bedeutung ist allerdings auch, was die besagten Entwürfe nicht vorsehen. So soll das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für die Wahl der Richter*innen auch künftig nicht aus dem BVerfGG in das Grundgesetz übernommen werden. Entgegen den Forderungen prominenter Verfassungsrechtler*innen (z.B. hier, hier und hier) bleibt das Quorum damit für Änderungen mit einfacherer Mehrheit verfügbar. Auch soll das BVerfGG weiterhin nicht als Zustimmungsgesetz ausgestaltet werden (siehe dazu z.B. hier und hier). Beschließt der Bundestag also eine Änderung des BVerfGG, die im Bundesrat auf Ablehnung stößt, hat dieser nach wie vor nur die Möglichkeit des Einspruchs nach Art. 77 Abs. 3 GG, den jedoch der Bundestag gem. Art. 77 Abs. 4 GG zurückweisen kann. Materielle Vorgaben bezüglich der für die Wahl der Richter*innen erforderlichen Mehrheit macht das Grundgesetz dabei nicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.7.1998 – 1 BvR 2470/94, Rn. 35).

Die Gesetzentwürfe würden einen verfassungskonformen und praktisch funktionsfähigen Mechanismus zur Auflösung von Wahlblockaden also nicht erstmals erschaffen. Den schon bei gegenwärtiger Rechtslage gangbaren Weg, Blockaden der Richter*innenwahl dadurch zu überwinden, dass das Mehrheitserfordernis mittels Änderung des BVerfGG auf ein faktisch erreichbares Niveau herabgesetzt wird, würden die aktuellen Änderungsvorschläge nicht versperren. Sollten Bundestag und Bundesrat die Entwürfe in ihrer derzeitigen Form beschließen, stünden unter dem Grundgesetz künftig somit zwei Mechanismen zur Verfügung, mittels derer Richter*innen auch dann an das BVerfG gewählt werden können, wenn sich dafür im ursprünglich zuständigen Wahlorgan keine Zweidrittelmehrheit findet: Die Herabsetzung des Quorums und die Ersatzwahl. Gerade die Kombination dieser beiden „Blockadelösungsmechanismen“ birgt jedoch erhebliche Gefahren für Legitimation und Unabhängigkeit des Gerichts.

Legitimationsdefizite

Dass ein Abrücken vom Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit nicht ohne Schäden für Ansehen, Unabhängigkeit und demokratische Legitimation des BVerfG möglich wäre, ist hinlänglich bekannt und Bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung (siehe z.B. hier). Es überrascht daher nicht, dass hinter den beiden Gesetzentwürfen (auch) die Motivation steht, das Gericht vor derartigen Schäden zu bewahren: Ausweislich der Entwurfsbegründungen soll es der Ersatzwahlmechanismus gerade ermöglichen, Blockaden bei der Richter*innenwahl zu umgehen, „ohne das bewährte Zweidrittelquorum aufgeben zu müssen“ (BT-Drs. 20/12977, S. 8; vgl. BT-Drs. 20/12978, S. 1).

Keine Ausführungen machen die Entwürfe jedoch zu dem Umstand, dass der Gebrauch des Ersatzwahlmechanismus auch mit Kosten für die Legitimation des Gerichts verbunden wäre: Die in Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG vorgesehene paritätische Wahl der Verfassungsrichter*innen durch Bundestag und Bundesrat soll das BVerfG sowohl mit einer demokratischen als auch einer bundesstaatlichen Legitimationsgrundlage versehen (siehe z.B. hier). Indem die Ausübung des Ersatzwahlmechanismus von dieser Parität abweicht,2) geht sie also entweder zu Lasten der demokratischen oder aber der föderalen Rückanbindung des Gerichts: Je mehr Richter*innen durch den Bundestag statt durch den Bundesrat gewählt werden, desto unitaristischer wird die konkrete Legitimation des BVerfG. Und andersherum: Je mehr Richter*innen durch den Bundesrat gewählt werden, desto schwächer wird ihre demokratische Legitimation. Denn während der Bundestag unmittelbar durch einen Wahlakt legitimiert ist, leitet sich die demokratische Legitimation der Mitglieder des Bundesrates von derjenigen der Landesparlamente ab.

Verglichen mit den Folgen eines Abrückens vom Erfordernis der Zweidrittelmehrheit mögen diese Konsequenzen einer Ersatzwahl das deutlich kleinere Übel darstellen. Ein solcher Vergleich darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese beiden Mechanismen den Entwürfen zufolge nicht in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander stehen. Käme es zu den geplanten Änderungen in Grundgesetz und BVerfGG, könnte sowohl die Herabsetzung der zur Richter*innenwahl erforderlichen Mehrheit als auch eine Ersatzwahl erfolgen. Die Wahl des kleineren Übels würde das größere nicht zwingend abwenden. Zu den bereits bei aktueller Rechtslage bestehenden Gefahren für die Legitimation des BVerfG kämen somit neue hinzu.

Missbrauchspotential

Dagegen ließe sich einwenden, dass die Einführung des Ersatzwahlmechanismus die praktische Notwendigkeit beseitigen würde, vom Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit abzurücken. In Form der Ersatzwahl stünde schließlich ein milderes Mittel bereit, um Blockaden bei der Richter*innenwahl aufzulösen. Diese Erwägungen tragen jedoch einerseits nur, wenn eine Ersatzwahl möglich ist, also nur in einem Wahlorgan eine Sperrminorität besteht. Andererseits setzen sie voraus, dass mit der Aufhebung des Zweidrittelquorums nicht andere Ziele verfolgt werden.

Es ist jedoch auch möglich, dass eine Partei oder eine Parteienkoalition die Mehrheit im Bundestag erlangt, der es darauf ankommt, ihren politischen Einfluss auf das Verfassungsgericht auszubauen. Kontrolliert eine solche Partei oder Koalition auch eine Sperrminorität im Bundesrat, was in der Regel wohl der Fall sein dürfte, wäre es ihr bereits de lege lata möglich, frei über die vom Bundestag zu besetzenden Richter*innenstellen zu verfügen: Setzt der Bundestag die zur Richter*innenwahl erforderliche Mehrheit per Änderung des BVerfGG herab, könnte sie ihre favorisierten Kandidat*innen nämlich ohne Rücksicht auf die Opposition an das BVerfG wählen. Eine solche Änderung des BVerfGG wäre für den Bundesrat auch nicht zu verhindern: Aufgrund der Sperrminorität könnte er seinen Einspruch nur mit einfacher Mehrheit beschließen (vgl. Art. 77 Abs. 3 GG). Die Bundestagsmehrheit könnte diesen also überstimmen (vgl. Art. 77 Abs. 4 GG).

Über das Instrument der Ersatzwahl würde die Bundestagsmehrheit in einem solchen Szenario zudem Zugriff auf diejenigen Richter*innenstellen erlangen, deren Besetzung eigentlich dem Bundesrat zusteht. Ihre Verbündeten im Bundesrat müssten dazu lediglich von ihrer Sperrminorität Gebrauch machen, um dort jede Richter*innenwahl so lange zu blockieren, bis das Wahlrecht ersatzweise auch dem Bundestag zukommt. Wurde das erforderliche Quorum dort entsprechend herabgesetzt, könnte die einfache Mehrheit im Bundestag ihre gewünschten Kandidat*innen dann anstelle des Bundesrats an das Gericht wählen. Das Grundgesetz gibt nämlich nicht vor, dass für die Richter*innenwahl in Bundestag und Bundesrat dieselben Verfahrensnormen gelten müssen. Schon jetzt genügt im Bundestag zum Beispiel eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, während im Bundesrat zwei Drittel aller Stimmen erforderlich sind (vgl. § 6 Abs. 1 S. 2 und § 7 BVerfGG). Eine Sperrminorität im Bundesrat kann damit auch dann fortbestehen, wenn das Zweidrittelquorum für Wahlen im Bundestag aufgegeben wird. Nach Einführung der Ersatzwahl würde eine Bundestagsmehrheit in Verbindung mit einer Bundesratsminderheit genügen, um jede freiwerdende Stelle am BVerfG mit beliebigen Kandidat*innen zu besetzen. Die politische Vereinnahmung des Gerichts würde zukünftigen Regierungen so erleichtert.

Fazit

Die Entwürfe laufen damit ihrem erklärten Ziel zuwider, Angriffen auf die Legitimation und Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit vorzubeugen, „wie sie seit einiger Zeit in einzelnen europäischen Ländern zu beobachten waren“ (BT-Drs. 20/12977, S. 1). Denn in Polen und Ungarn, die hier wohl in erster Linie gemeint sind, wurde die Entmachtung und politische Vereinnahmung der Verfassungsgerichte nicht etwa von Sperrminoritäten, sondern von Regierungen vorangetragen, die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützen konnten. Soll einer Entwicklung wie in diesen Staaten vorgebeugt werden, muss das BVerfG also auch gegen Gefahren abgesichert werden, die von einer Mehrheit im Bundestag ausgehen.

Dem Verfassungsgesetzgeber bleiben mehrere Möglichkeiten, auf diese Kritik zu reagieren. Einerseits könnte er auf die Einführung des Ersatzwahlmechanismus verzichten. Damit bliebe das Problem der Wahlblockaden jedoch aktuell. Vorzugswürdig wäre daher, das Zweidrittelerfordernis für die Richter*innenwahl durch Bundestag und Bundesrat verfassungsrechtlich abzusichern. Dieses könnte einerseits unmittelbar in die Verfassung aufgenommen werden. Andererseits könnten Änderungen des BVerfGG künftig an die Zustimmung des Bundesrats geknüpft werden. Beide Varianten würden das Zweidrittelerfordernis dem Zugriff einfacherer Mehrheiten im Bundestag entziehen und so die Gefahren eindämmen, die sich aus der Kombination von Ersatzwahl und Verfügbarkeit des Zweidrittelquorums ergeben. Trotz dem drohenden Ende der Legislaturperiode besteht jetzt noch die Möglichkeit, die Gesetzentwürfe entsprechend anzupassen und für einen verfassungsrechtlichen Schutz des Zweidrittelerfordernis zu sorgen. Nach den Neuwahlen ist es dafür vielleicht schon zu spät.

References

References
1 Die Frist, nach deren Ablauf das jeweils andere Wahlorgan tätig werden kann, wird darin auf drei Monate festgelegt. Sie beginnt, wenn das BVerfG seinen Wahlvorschlag nach § 7a BVerfGG macht. Dies ist wiederrum erst zwei Monate nach Ende der Amtszeit des*der ausscheidenden Richter*in möglich, sodass das dem zuständigen Wahlorgan für mindestens fünf Monate ein alleiniges Wahlrecht zukommt.
2 Nach der geplanten Änderung des BVerfGG soll ein*e ersatzweise gewählte Richter*in als vom ursprünglich zuständigen Wahlorgan gewählt gelten. Infolge einer Ersatzwahl würde das ursprünglich zuständige Organ sein Wahlrecht also verlieren. Ohne eine solche Regelung könnte die Ersatzwahl jedoch ebenfalls vom Grundsatz der Parität abweichen: Solange eine Wahlblockade in einem Wahlorgan besteht, würde das jeweils andere Organ nämlich bei jeder Wahl zum Zuge kommen, egal welchem von beiden das originäre Wahlrecht zusteht.

SUGGESTED CITATION  Willaschek, Simon: Das Resilienzrisiko: Zur geplanten Einführung eines Ersatzwahlmechanismus für Verfassungsrichter*innen ohne rechtliche Absicherung des Zweidrittelquorums, VerfBlog, 2024/11/12, https://healthyhabit.life/das-resilienzrisiko/, DOI: 10.59704/a1c83085d4c92b23.

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